Über die Generationenkluft hinweg

Von Marcy Goldberg, SWISS FILMS INFO 2_2008

Vier Jahrzehnte sind vergangen, seit sich der Neue Schweizer Film von der Generation seiner Väter absetzte. Doch welcher Bezug besteht zu den jüngeren Generationen von heute?

Im Januar 1996 erhitzte ein Interview der französischen Zeitung Libération mit den Cineasten Alain Tanner, Fredi M. Murer und Daniel Schmid die Gemüter innerhalb der Schweizer Filmbranche. Anlässlich einer Retrospektive mit 100 Schweizer Filmen im Centre Pompidou in Paris bat die Zeitung die drei «im Ausland bekanntesten» Spielfilmregisseure um ihre Meinung zur Befindlichkeit des Schweizer Films. Eine Frage lautete: «Gibt es heute junge Schweizer Filmemacher?», worauf alle drei mit einem klaren «Nein» antworteten.

Für diese Veteranen des kantigen Neuen Schweizer Films der 1960er- und 70er-Jahre war die Filmbranche zahm und bürokratisch geworden. Schmid (*1941) sagte: «Wir haben Filmschulen in der ganzen Schweiz und Tausende von Studierenden, die jedes Jahr abschliessen; aber sie machen keine Filme.» Murer (*1940) fügte bei: «Es gibt etwa 20 Junge, deren Filme nicht schlecht und technisch durchaus auf der Höhe sind, aber sie sind völlig austauschbar. Man ist weniger mutig als früher: Alle besuchen Workshops, lassen sich von Script Doctors beraten und lernen alle möglichen Berufsjargons. Dann versuchen sie, mit Drittwelt-Budgets amerikanische Filme zu imitieren. Die Folge ist, dass es keine Autoren gibt und die Filme, die sie machen, keine Wurzeln haben.» Tanner (*1929) sagte abschliessend dazu: «Dies mag allzu pessimistisch tönen, aber ich glaube, dass nach 2000 alles vorbei sein wird!»

Neue Filmschaffende, neue Ansätze

Rückblickend scheint die Millenniumswende auch eine Wende für den Schweizer Film gewesen zu sein. Für Tanner mag sie das Ende bedeutet haben – er selber sagte 2004, PAUL S'EN VA sei sein letzter Film – doch für eine neue Generation von Filmschaffenden war sie ein Neubeginn. Der Übergang zeichnete sich unter anderem mit der Errichtung der Filmschulen in Zürich und Lausanne in den 1990er-Jahren ab. Vor diesem relativ späten Zeitpunkt gab es in der Schweiz kaum Möglichkeiten für eine anerkannte Filmausbildung. 1995 und 1996 hatten die ersten Studierenden ihr Diplom in der Hand. Nicht zu Tausenden, wie Schmid behauptet hatte, sondern jeweils ungefähr ein Dutzend. Einige der wichtigsten neuen Namen im Schweizer Film sind Studiumsabgängerinnen und -abgänger zwischen 1995 und 2000: Sabine Boss, Anna Luif, Andrea Staka und Bettina Oberli in Zürich, Jean-Stéphane Bron und Fulvio Bernasconi in Lausanne. Weitere aufstrebende Filmschaffende studierten in jener Zeit im Ausland: Ursula Meier, in Belgien Stina Werenfels und Vincent Pluss in New York. Lionel Baier folgte dem alten Modell und verdiente seine Sporen on-the-job als Regieassistent im Anschluss an sein Universitätsstudium in Filmwissenschaften und Literatur.

Natürlich waren zu jener Zeit noch andere, ältere Regisseure aktiv: Viele von ihnen stammten aus der Film- und Videoszene der Jugendunruhen und Protestbewegungen der 1980er-Jahre. Doch die Filmschaffenden, die seit 2000 von sich reden machen, repräsentieren ganz klar eine neue Phase der Schweizer Filmgeschichte – wie unterschiedlich ihre Stile und Themen auch immer sein mögen.

Im Gegensatz zu den Regisseuren des Neuen Schweizer Films und den politischen Filmschaffenden der 1980er-Jahre, die gegen den Strom zu schwimmen pflegten, nehmen heute viele junge Filmschaffende das Recht in Anspruch, populär und breit zugänglich zu sein – wobei sie ihren ästhetischen Ambitionen treu bleiben. Manche orientieren sich tatsächlich am Hollywood’schen Unterhaltungsmodell, kombinieren es aber mit lokalen Settings und – was die Deutschsprachigen betrifft – mit Deutschschweizer Dialekt. Diesen Weg beschritt der Autodidakt Michael Steiner, dessen Adaption des Kinderbuchklassikers MEIN NAME IST EUGEN (2006) in der Erfolgsskala sämtlicher Schweizer Filme den dritten Rang belegt. Und auch die in Zürich diplomierte Bettina Oberli, deren Komödie DIE HERBSTZEITLOSEN aus dem Jahr 2006 den zweiten Platz in der Skala einnimmt (Rolf Lyssys Satire DIE SCHWEIZERMACHER aus dem Jahre 1978 steht an erster Stelle), ging diesen Weg.

Existiert der Schweizer Film (noch)?

Im Jahr 2000 war also gar nicht alles «vorüber». Zweifellos hat die schweizerische Filmbranche seit der Blütezeit der Autorenfilmer in den 1960er- und 70er-Jahre einen Wandel erlebt. Wie überall auf der Welt gibt es grundlegende Veränderungen bei der Machart von Filmen, wie sie vermarktet und konsumiert werden. In der globalisierten Welt der Medien gehören die für ein Land typischen Strömungen und ästhetischen Werte der Vergangenheit an. Jüngere Generationen, die mit Fernsehen und Videospielen aufgewachsen sind, pflegen einen anderen visuellen Stil und haben andere Kulturreferenzen als ihre Ahnen; sie haben vermutlich mehr gemeinsam mit ihresgleichen rund um die Welt als mit den älteren Kolleginnen und Kollegen im eigenen Land.

Macht es demnach noch Sinn, vom «Schweizer Film» zu sprechen? Meiner Meinung nach, ja. Denn Filmschaffende jeder Generation in der Schweiz arbeiten innerhalb desselben fragilen Ökosystems: Sie unterliegen denselben finanziellen Zwängen, teilen dieselben halbprofessionellen Infrastrukturen und das von sprachlichen und regionalen Unterschieden geprägte Publikum. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten täten sie gut daran, zusammenzuhalten und ihre gemeinsamen Interessen zu verteidigen – was letztlich ein wirksamerer Weg wäre, um die individuelle kreative Freiheit zu erhalten.

Ausserdem haben die in der Schweiz tätigen Filmemacherinnen und Filmemacher denselben kulturellen Hintergrund und teilen dieselbe Geschichte; sie greifen immer wieder auf Motive früherer Jahrzehnte zurück. Wie damals lassen sie sich auch heute von ähnlichen Themen inspirieren oder irritieren, wie etwa die schweizerische Landschaft, der Graben zwischen Stadt und Land, das Bildungssystem, die kontroversen Welten der Finanzen und der Politik sowie die Probleme rund um die Immigration. Doch der Ton hat sich verändert. Während die Filmschaffenden der 1960er-, 70er- und 80er-Jahre oft eine klare oppositionelle, sozialkritische Position einnahmen, neigen die jungen Cineastinnen und Cineasten von heute zu einer subtileren, subjektiveren und weniger dogmatischen Haltung. Vielleicht liegt das darin, dass die jungen Filmschaffenden neue Stimmen und Identitäten vertreten. Die früheren Generationen machten Filme im Namen der Immigranten und anderer Minderheiten, während manche junge Filmschaffende heute selber zu diesen Gruppen gehören.

Und dennoch hat sich die Generationenkluft innerhalb des Schweizer Films seit den späten 1990er- Jahren verschmälert. Daniel Schmid starb 2006 an Krebs, hatte aber geplant, für seinen letzten unvollendeten Spielfilm, PORTOVERO, mit jungen Kolleginnen und Kollegen zusammenzuarbeiten. Nun arbeiten zwei Filmstudenten aus Zürich, Pascal Hofmann und Benny Jaberg, an einem Dokumentarfilm über Schmids Leben und Werk. Fredi M. Murer tat sich für den im Kollektiv entstandenen Dokumentarfilm DOWNTOWN SWITZERLAND (2004) mit jungen Filmschaffenden zusammen und für das Drehbuch zu seinem jüngsten und sehr erfolgreichen Spielfilm VITUS (2006) arbeitete er mit dem jungen Cineasten Peter Luisi. Und was Alain Tanner betrifft: Kein anderer Schweizer Cineast hat einen derart grossen Einfluss auf junge Filmemacher und wird derart häufig als Vorbild genommen. Einige unter ihnen, auch Ursula Meier, würdigten ihn in Interviews und Statements. Andere wiederum erweisen ihm in ihrem Werk bewusst Referenz. Beispielsweise Lionel Baier in seinem Film GARÇON STUPIDE (2004), der auf Tanners LA SALAMANDRE aus dem Jahre 1971 anspielt. All dies zeigt, dass über die Generationenkluft hinweg doch alle eine Familie sind.

Marcy Goldberg,
geboren 1969 in Montreal, Kanada, ist Filmhistorikerin und Medienberaterin. Sie arbeitet zur Zeit an einer Dissertation an der Universität Zürich über selbstkritische Bilder der Schweiz im Schweizer Film seit 1964.

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