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Dossier Visions du Réel Nyon QUE SERA

Kritik in CINEMA

Diskussion mit Hans Saner im Tages Anzeiger


ISAN: 0000-0001-67E6-0000-F-0000-0000-T

Berner Filmpreis 2004
Visions du Réel Nyon 2004

Que sera?
CH 2004 87'

Regie: Dieter Fahrer
Drehbuch: Dieter Fahrer
Kamera: Dieter Fahrer
Ton: Balthasar Jucker
Schnitt: Maya Schmid
Musik: Disu Gmünder, Christoph Rechsteiner, Bernhard Nick
Produktion: Balzli & Fahrer GmbH

Dieter Fahrer 2004 87'


Unsere Ältesten leben im Altersheim. Endstation. Doch mit den Kindern, die neu ins Haus gezogen sind, erwacht die schwindende Lebenskraft. Menschen, die noch nicht oder nicht mehr zur Leistungsgesellschaft gehören, haben Zeit – viel Zeit, auch füreinander.

"Dieter Fahrers QUE SERA? – der titelgebende Song von Doris Day wird an einer Nachmittagsunterhaltung gespielt – ist ein mutiger Film. Und dies ist alles andere als eine Floskel. Denn es braucht tatsächlich eine gehörige Portion Mut, einen Film diesem Thema zu widmen, seine Kamera mit Geduld darauf zu richten, wo man mit Vorliebe die Augen verschliesst und die Gedanken abwendet: Alter, körperlicher und geistiger Zerfall, Sterben. Doch nicht nur die Wahl des Sujets verdient Anerkennung – auch die Herangehensweise, die trotz der oft schonungslosen Nähe noch Anteilnahme zu vermitteln vermag. Fahrer schöpft dabei aus seinem Erfahrungsschatz: Er arbeitete als Hilfspfleger in der Schönegg und kann seine Sympathie für die Senioren auch für aussen Stehende vermitteln. Die Kamera, die er selbst bediente, fand dabei den richtigen Ausgleich zwischen registrierender Nähe und respektvoller Distanz, zwischen Empathie und einer philosophischen Leichtigkeit, die alles in einen Fluss von Werden und Vergehen setzt. So entlässt einen der Film nachdenklich, aber nicht hoffnungslos, auch wenn die Fragen nach dem Altwerden, nach Würde, Selbstbestimmung, dem Sinn und der Gestaltung des Lebens noch lange nachklingen."
Doris Senn in CINEMA

"Bevor Dieter Fahrer QUE SERA? zu drehen anfing, arbeitete er als Hilfspfleger in der Schönegg und kam so seinen Protagonisten näher. Was in dieser Gemeinschaft nicht mehr gelingen will, schafft er als Filmemacher, indem er fünf Personen vor der Kamera zu Wort kommen lässt. So erfahren wir von Lydia, dass der Wunsch nach Liebe und Sex nie weg geht, aber dass sie lernen musste zu verzichten. Gottfried will lieber nicht wissen, was um ihn herum geschieht. Hélènes Wohnung wurde ohne ihr Wissen aufgelöst. Fahrer stellt die persönlichen Portraits dem Heimalltag gegenüber. Lydia und Hélène sind mehrmals in der Kindertagesstätte anzutreffen, wo sie mitbasteln und malen. Als einzigen Senioren gelingt es ihnen, einen Kontakt zu den Kindern herzustellen, während für andere die Kinderwelt fremd geworden ist. Panoramaschwenks mit der Kamera geben den Blick frei nach draussen, wo die Stadt Bern liegt, die für die Leute drinnen nur noch durchs Fenster wahrnehmbar wird. Diese Menschen sind am Ende ihres Lebens angekommen und warten in langen Korridoren auf ihren Tod. Ihr Leben liegt in der Vergangenheit. Sie müssen zurückdenken und sich an Gedanken freuen, wie es einmal war. „Ein Trost bleibt“, sagt Lydia, „es geht allen gleich, ob jung oder alt, schön oder hässlich, reich oder arm, nur das Sterben ist anders.“ Der Film schafft ein sinnliches Ambiente in einem Haus, wo Trostlosigkeit herrscht und die Zukunft ausgelöscht ist, während sich gleichzeitg mit der Ankunft des 6-monatigen Kaspars der Lebenskreis wieder öffnet."
Visions du Réel Nyon

Hintergrund

Die wohl grösste gesellschaftliche Veränderung im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts war der Übergang von einer gemeinschaftlichen zu einer individualistischen Gesellschaft. Die meisten heute älteren Menschen wuchsen noch in grossen Familien auf. Sie teilten sich das Schlafzimmer mit zahlreichen Geschwistern und hatten Grosseltern, Tanten oder Onkel, die im Haus oder in der Nähe wohnten. Sie kannten ihre Nachbarn, und die wichtigste Unterhaltung, die sie hatten, waren andere Menschen. Sie waren gesellig, denn die Gemeinschaft hatte einen deutlich höheren Stellenwert und sie war auch der Ort, wo man Unterstützung oder Unterhaltung suchte.

Heute wachsen die meisten Kinder in Kleinfamilien auf und die allgemeine Mobilität hat dazu geführt, dass ihre Grosseltern, Tanten und Onkel oft weit entfernt von ihnen wohnen. Im Zentrum des häuslichen Feierabends steht heute bei den meisten Familien der Konsum von Informations- und Unterhaltungsmedien.

In unserer Kultur gibt es nur wenig, was uns auf positive Weise auf die Alten hinweisen würde. Unsere Medien, unsere Musik und die Werbebranche glorifizieren alle die Jugend. Stereotype Vorstellungen suggerieren uns, dass ältere Menschen die jüngeren von Spass, Arbeit und Spannung abhalten. Sie beanspruchen kostbare Zeit und Geduld, die heute beide sehr knapp sind. Wir sind sehr körper- und leistungsorientiert, doch alte Körper werden schwach und krank: sie taugen nichts. Wir sind fixiert auf die äussere Erscheinung doch das jugendliche Aussehen verblüht. Alte Menschen erleben oft, dass sie von den Jungen einfach nicht wahrgenommen werden. Ihr Alter macht sie unsichtbar.

In ihrem Buch „Mythos Alter“ stellt Betty Friedan fest, dass die Alten als Menschen dargestellt werden, die keinen Sex kennen, an Demenz leiden, inkontinent, zahnlos und kindisch sind. Alte Frauen werden als sentimental, naiv, dumm und geschwätzig gezeigt und als Menschen, die nur Schwierigkeiten machen.

Alte Menschen sind sehr verschieden, doch drei Arten von Erfahrungen sind den heutigen Alten gemeinsam: Sie haben an den Ereignissen des 20. Jahrhunderts teilgehabt, sie haben dieselben entwicklungstechnischen Hürden genommen, und nun leben sie alle in der Landschaft des Alters. Sie haben gelebt bevor es Waschmaschinen, Fernseher, Computer, ja die gesamte Unterhaltungs- und Informationsindustrie gab. Elektrizität, Telefon und Strassen haben während ihrer Lebensspanne ein weltumspannendes Netz gewoben und neue Begriffe und Werte haben Bedeutung erlangt: Altersvorsorge, Ökologie, Entwicklungshilfe, Mobilität, Globalisierung...

Alte Männer wissen noch, wie Bleisatz funktioniert, was in einer Gerberei gemacht wird, wie man Zäune baut, ein Messer schleift...

Ältere Frauen können backen, Kleider flicken, Wollsocken stricken, Seife herstellen und sie haben oft noch althergebrachtes Wissen in Naturheilkunde...

Viele alte Menschen können Lieder singen, Instrumente spielen, Porträts zeichnen oder Gedichte aufsagen.

Man sagt, dass wir im Jahrhundert des Kindes leben. Manches scheint dafür zu sprechen: die Errungenschaften der Medizin etwa, oder aber auch die Neufassung des Kinds- und Familienrechts.

Doch noch heute werden die Menschenrechte als Vorrechte der Erwachsenen praktiziert. Viele Erwachsene respektieren die körperliche Integrität der Kinder nicht, sondern schlagen und misshandeln sie.

In der westlichen Konsumwelt leiden Kinder neben der individuellen Gewalt immer stärker unter einer strukturellen. Sie werden in ihrer freien Entfaltung durch Strukturen behindert, die ausschliesslich auf Erwachsene zugeschnitten sind. Es ist hier vor allem ihr Lebensraum, der durch den Verkehr beschnitten wird und auch die Städte und Wohnungsplanung berücksichtigt die Anliegen von Kindern noch immer nicht genügend – wenn überhaupt. Kinder sind ausserdem eine ideale Projektionsfläche für die Werbung, denn sie sind leichtgläubig. Sie wachsen in eine vollcomputerisierte, technisierte Welt hinein und am faszinierendsten unter all den Geräten, die sie bedienen, sind Fernseher und Computer. Bildschirm und Wohnen wiederum bedingen sich gegenseitig: Die moderne Art zu wohnen zwingt uns zur Bewegungslosigkeit, zum Stillsitzen.

Wir sortieren die Menschen nach dem Alter. Wir tun unsere Dreijährigen zusammen, die Dreizehnjährigen und die Achtzigjährigen. Kinder haben manchmal monatelang keinen Kontakt zu alten Menschen und umgekehrt bleiben die Alten unter sich. Ein grosser Teil der sozialen Konflikte in der westlichen Welt rührt von dieser Altersunterteilung her. Wenn zehn Vierzehnjährige zusammen sind, so wird der hierarchische Kampf bald im Vordergrund stehen. Wettstreit, soziale Angst und Gemeinheit sind an der Tagesordnung. Wenn zehn Menschen zwischen null und achtzig Jahren zusammen sind, dann werden sie sich nach einer natürlichen Altershierarchie gruppieren, die alle von ihnen versorgt und bereichert. Da jeder eine Nische für sich hat, wird der Wettstreit um die besten Plätze keine Rolle spielen.

Jede Person wird etwas Besonderes beizutragen haben. Die Werte werden sich vertiefen, und die Erfahrung wird wachsen.

2002 wurde in Bern ein Experiment gestartet, das für die Schweiz ein Novum darstellt. Es besinnt sich zurück auf alte generationenübergreifende Formen des Zusammenseins. Im Alters- und Pflegeheim „Domicil für Senioren Schönegg“ wohnen etwa neunzig alte Menschen und ungefähr gleich viele Personen arbeiten in der Pflege, Küche, Wäscherei und in der Verwaltung. Die Kindertagesstätte „mixmax“ im gleichen Haus beschäftigt fünf Kleinkinderzieherinnen und ungefähr zwanzig Kinder besuchen regelmässig die Krippe. Seit dem Frühjahr 2002 war ich regelmässig im Haus zu Besuch, doch musste ich schnell feststellen, dass ich immer nur der Besucher war, der von aussen kam und der trotz grösstmöglicher Offenheit irgendwie ein Eindringling blieb. Um den Menschen im Haus näher zu kommen bedurfte es einer wirklichen Teilnahme am Alltag. So begleitete ich während mehreren Wochen die PflegerInnen und Kinderbetreuerinnen im Haus. Ich war bei der Intimpflege dabei, habe alte Menschen im Rollstuhl in den Park geführt, den Gebrechlichsten das Essen eingegeben, Teamsitzungen mitverfolgt, mit Kindern gespielt und sie durch den Krippenalltag begleitet... Innerhalb des Hauses wurde mir grosses Vertrauen entgegengebracht, denn ich durfte in Krankengeschichten und biographische Notizen Einsicht nehmen, bei den intimsten Pflegesituationen und Gesprächen mit Angehörigen dabei sein und auch an kontroversen Personaldiskussionen teilnehmen. Dabei bin ich vielen Menschen wirklich nahe gekommen und hatte (im Gegensatz zu den im Pflegeplan voll eingebunden PflegerInnen) viel Zeit für Gespräche und schlichtes Zusammensein mit den alten Menschen. In dieser Zeit hatte ich auch meinen Fotoapparat dabei und die Menschen im Haus haben sich so schon daran gewöhnt, dass ein ‚Bildermacher' sie nun regelmässig besucht. An einem Informations-Apéro habe ich breit über mein Vorhaben informiert und bin dort auch einer grossen Zahl von Angehörigen begegnet: Kinder der Alten und Eltern der Kinder. So habe ich nach und nach das Vertrauen der Menschen im Haus gefunden und konnte mit den Dreharbeiten beginnen.



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