Camenisch - Mit dem Kopf durch die Wand

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Solothurner Filmtage 2002

Camenisch - Mit dem Kopf durch die Wand
CH 2001 87'

Regie: Daniel von Aarburg
Drehbuch: Silvio Huonder, Daniel von Aarburg
Kamera: Stéphane Kuthy
Ton: Hercli Bundi
Schnitt: Matthias Bürcher
Musik: Valentin Kessler
Produktion: Werner Schweizer, Dschoint Ventschr

Daniel von Aarburg 2001 87'


Am 5. November 1991 geht der italienischen Polizei der meistgesuchteSchweizer Terrorist ins Netz: Marco Camenisch eröffnet bei seiner Verhaftungim toscanischen Ferienort Forte dei Marmi sofort das Feuer,verletzt einen Carabinieri und wird selbst angeschossen.

Damit ist der wohl spektakulärste Fall von ökologisch motivierter Militanz in der Schweizvorläufig zu Ende gegangen. Marco Camenisch sitzt seither in wechselndenHochsicherheitsgefängnissen.

Begonnen hatte alles relativ harmlos: 1979 macht Camenisch in Graubündenzusammen mit einem Komplizen Sprengstoffanschläge auf Stromanlagen der NordostschweizerischenKraftwerke (NOK). Für diese Sachbeschädigungen wird er zu exemplarischharten zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach nur einem Jahr entzieht sichCamenisch der Strafe durch Flucht und taucht für fast ein Jahrzehnt unter.

Auch Silvio Huonder, der heute als Schriftsteller («Adalina», «Uebungsheftder Liebe») in Berlin lebt, kam Ende der Siebziger Jahre mit der Schweizer Justiz inKonflikt: 10 Monate Gefängnis wegen Militärdienstverweigerung. Huonder hat die Strafenie angetreten und sich nach zwei Jahren clandestiner Existenz ins Ausland abgesetzt.

Marco Camenisch und Silvio Huonder kennen sich aus ihrer Jugend. Siehaben in Chur gemeinsam als Pferdepfleger gejobbt und waren dabei buchstäblich die«Steigbügelhalter der Bourgoisie». Huonder steht mit Camenisch seit einiger Zeit inbrieflichem Kontakt. Von Berlin aus macht er sich auf die Suche nach Spuren seinesKollegen, den er seit über 20 Jahren nicht mehr gesehen hat. Er versucht, auf dieser Reisedie Geschichte eines Abwesenden zu rekonstruieren. Es wird eine Reise zum ehemaligenKomplizen, zur Mutter, zu Bekannten und Opfern von Camenisch. Im Mittelpunkt vonHuonders Recherche stehen ausserdem Reflexionen über Biografie und Schicksal, überdie Legitimation von Widerstand in der Demokratie, über die späten Siebziger Jahre unddarüber wie jemand, der in dieser hochideologisierten Zeit mit dem Kopf durch die Wandwollte, zerbrechen musste.

Freiheit trotz Müll und Gift

Roger Monnerat, WOZ

Huonder kommt für die Filmarbeit als Fremder in die Schweiz zurück, und es entsteht der Eindruck, als würde er sich während des Films gegen die «Verschweizerung», die die Ballung von Mundart und Matten und Bergen zur Folge hat, wehren. Diese wird dadurch verstärkt, dass die Befragten sich vor der Kamera wie gegenüber einer geachteten und achtenswerten Institution verhalten, was Fernsehen DRS in der Schweiz ja auch ist, das heisst: wohlanständig, ausgewogen, temperiert. Bei allem Wohlwollen Camenisch gegenüber, machen sie ihn, der auf seiner Radikalität besteht, dadurch zu einem Fremden, nicht Dazugehörigen, zu einem, der in einer anderen Realität lebt.

Paradoxerweise ist es Huonders Distanziertheit, die Camenisch im Gegensatz zum Dokumentarischen doch noch einen Platz einräumt. Einen klar definierten Platz. Huonder sagt: «Die letzten zehn Jahre hat Marco Camenisch in italienischen Gefängnissen verbracht, die zehn Jahre davor im Untergrund. Dass er an seinen Idealen festhält, ist das Resultat einer sehr eingeschränkten Realität. Dass er an seiner Sprache und seiner pauschalisierenden Argumentationsweise festhält, ist verstörend und betrüblich – angesichts seiner Situation aber ebenfalls zu verstehen. Dies ist meine grundsätzliche Beziehung zu Marco Camenisch: Ich kann einiges, was er getan hat und wie er es begründet, nicht gutheissen, aber trotzdem verstehen. Das ist das Wesen der Tragödie.»
Während der Film noch fragt: «Hat Camenisch den Zöllner getötet oder nicht?», hat sich Huonder schon abgewendet. Er steht vor der Tafel, die über Brusio die Wasserscheide zwischen Schwarzem und Adriatischem Meer markiert, er ist bereit, ins Tal hinunterzusteigen und seine Rolle als Rechercheur weiterzuspielen. Die Absage, die er Camenisch am Schluss des Filmes erteilen wird, ist ihm schon anzusehen.

Den Schluss bildet eine Passage aus einem von Camenischs Briefen, in der es heisst: «Wer der Freiheit ergeben ist und den Gedanken rücksichtslos in sich aufgenommen hat, wird ihn sich nicht durch die Einwendungen der handfesten praktischen Gegenwart, bestehend aus haufenweise Müll und Gift vor unseren Türen und in unseren kaputten Hirnen, rauben lassen.» Huonder antwortet ihm zu Aufnahmen, die ihn bei der Ankunft in Berlin zeigen, mit den Worten: «Vielleicht ist es genau das, was uns trennt: Dass ich bereit bin, jede Ideologie von dieser so genannten ‘praktischen Gegenwart' infrage stellen zu lassen. Denn die Gegenwart besteht nicht nur aus Müll und Gift, sondern aus unendlich viel mehr.»



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